Flieh, Valdir, flieh!

Im Kreuzfeuer der Gewalt

„Diese Nacht überlebst du nicht!“

Schon früh muss Valdir zu Hause Trunksucht, Gewalt und Streit mitansehen. Nach der Scheidung der Eltern pendelt der Knabe heimatlos zwischen Mutter und Vater hin und her, bis sein angetrunkener Vater den Neunjährigen mit einer brutalen Tracht Prügel aus dem Haus jagt. Valdir landet auf der Straße. Dort lernt er sein Handwerk: Stehlen, um zu überleben.   Er gerät ins Bandenmilieu eines Elendsviertels, wird zum Kopf einer kriminellen Gang in São Paulo. Bis eine Begegnung mit einem Streetworker alles verändert.

Ein True Life Thriller aus Brasilien.

Verlag: fontis, 1999 
Neuauflage: Kofmehl Publishing, 2020 
Seitenzahl: 264 S.

Rezensionen

Dieses Buch ist so packend, dass ich es auch schon weiter verschenkt habe.
Damaris Kofmehl hat ein tief ergreifendes Schicksal in dieses Buch gepackt.

Amazon.de Kundenrezension | Juni 2015

Im Gedenken an Valdir

„Hey, Jesus liebt dich!“

Valdir 2.7.77 – 7.3.04

 

Seine Geschichte beginnt wie so viele Geschichten brasilianischer Strassenkinder: sein Vater trank, schlug ihn und jagte ihn zum Teufel, als er gerade neun Jahre alt war. So floh er auf die Strasse, lernte zu stehlen und zu schiessen, gründete eine Bande und machte Überfälle im Auftrag der Polizei, mit der er gezwungen war, die Beute zu teilen.

Ich lernte Valdir 1996 kennen, als er noch auf den Strassen São Paulos lebte und als einer der ersten Strassenjungen überhaupt in das damals gerade neu eröffnete Nachtprojekt Drei Herzen der Heilsarmee kam. Er lachte kein einziges Mal, gezeichnet vom harten Leben auf der Strasse. Ein Jahr später war er Mitarbeiter beim selben Nachtprojekt und hörte nicht mehr auf zu lachen. Gott hatte den Burschen radikal verändert und ihm einen neuen Lebenssinn gegeben. Es entwickelte sich eine enge Bruder-Schwester Beziehung zwischen uns, und 1999 schrieb ich ein Buch über sein bewegendes Leben. ‚Flieh, Valdir, flieh!’ Und ich nahm ihn mit auf eine Vortragstour in die Schweiz und nach Deutschland, wo er tausenden von Jugendlichen mit einem Strahlen im Gesicht die Worte sagte, die er in deutsch gelernt hatte: „Hey, Jesus liebt dich!“

 

Wenn es einen typischen Satz gibt, den ich über sein Leben schreiben würde, dann wäre es dieser: „Hey, Jesus liebt dich!“ Wenn ich mit ihm durch São Paulo fuhr und wir vor einem Rotsignal halten mussten, kurbelte er die Scheibe herunter und rief dem Fussgänger, der am nächsten stand, zu: „Hey, Jesus te ama!“ Wenn wir Einkäufe machten und an die Kasse kamen, war das erste, das er der Kassierein sagte: „Hat dir heute schon jemand gesagt, dass Jesus dich liebt?“ Und wenn die verwunderte Kassiererin den Kopf schüttelte, grinste Valdir übers ganze Gesicht und sagte ihr: „Ok, dann sag ich es dir jetzt: Jesus liebt dich!“

 

Valdir war ein Träumer. Er wollte Pastor werden, Anwalt oder Astronaut. Dann lernte er ein Mädchen kennen und hielt es um seine Hand an. Für ihn ging damit ein Kindertraum in Erfüllung. Er sagte mir: „Als ich auf der Strasse war, hab ich mir immer gewünscht, eines Tages in der Kirche zu heiraten. Aber ich hätte nie gedacht, dass dies eines Tages Wirklichkeit wird.“ Die Hochzeit war auf den 20. Januar 2001 angesetzt. Am 6. Januar rief mich Valdir an und sagte mir, ich solle für ihn beten, er hätte eine Wut im Bauch wie vor 4 Jahren, damals, als er auf seinen Feind wartete, um ihn umzubringen. Ich war ziemlich besorgt und betete, dass Valdir keine Dummheit begehe. Wenn ihm die Sicherungen durchbrannten, war er zu allem fähig, das wusste ich aus Erfahrung. Am nächsten Tag erzählte er mir, was passiert war: „Ich hatte eine Auseinandersetzung mit meiner Schwiegermutter, die uns gegenüber wohnt. Ich war danach so wütend, dass ich meinen Bruder anrief und ihn bat, mir eine Waffe zu besorgen. Ich kaufte mir ein Bier, setzte mich aufs Bett und erkannte mich nicht wieder. Rebecca weinte und sagte, sie wolle nicht mehr in der Kirche heiraten, und ich war innerlich so tief gesunken, dass ich ohne zu Zögern auf meine Schwiegermutter geschossen hätte, hätte ich eine Waffe zur Hand gehabt. Doch plötzlich wurde mir bewusst, was ich da eigentlich tat, und ich warf mich zu Boden und begann zu schluchzen wie ein kleines Kind und bat Gott um Verzeihung. Ich weiss wirklich nicht, was in mich gefahren ist. Am nächsten Tag bat ich meine Schwiegermutter um Verzeihung und auch Rebecca. Ich weiss, der Teufel will um jeden Preis verhindern, dass ich heirate, deshalb geschehen diese Dinge mit mir. Aber er wird mich nicht besiegen. Ich werde heiraten und über ihn siegen, in Jesu Namen.“ Es wurde eine wunderschöne Hochzeit. Und ich hatte Valdir noch nie glücklicher erlebt.

 

Leider stolperte Valdir auch in der Ehe oft über seinen impulsiven Charakter. Und da er mit seiner Frau mitten in der Favela wohnte, klopfte die Versuchung, wieder in die Kriminalität einzusteigen, nur allzuoft an seine Tür. Ein Drogenhändler wollte ihn zu seiner rechten Hand machen und offerierte ihm eine Menge Geld. Doch Valdir lehnte ab. „Ich möchte sauber bleiben“, sagte er mir. „Aber manchmal ist es hart, wenn du siehst, wie die Drogenhändler und ihre Kumpels in teuren Schlitten herumfahren und in Saus und Braus leben, während mir beinahe das Dach auf den Kopf fällt.“ Ein anderes Mal rief er mich an und sagte, ein paar Freunde hätten ihn eingeladen, an einem grossen Überfall teilzunehmen, doch er hätte abgelehnt.

 

Manchmal konnte Valdir auch ganz schön ausflippen und die Nerven verlieren. Das hat ihm leider das Leben gekostet. Sein jüngerer Bruder Valdemir hatte sich bei ein paar finsteren Typen in der Favela unbeliebt gemacht. Am Freitag, den 5. März 2004 feuerten sie zwei Schüsse auf ihn ab. Valdemir kam mit zwei Bauchschüssen ins Spital. Als Valdir von dem Vorfall erfuhr, besorgte er sich einen Revolver, gab zwei Warnschüsse vor einer Bar ab und verkündete, er würde sich an den Typen rächen, die seinen Bruder angeschossen hatten. Am selben Tag rief Valdir ganz überraschend im Projekt New Chance International an und bat unsere Mitarbeiter um Vergebung, da er sich in der Vergangenheit, als er noch bei New Chance arbeitete, manchmal etwas ungezogen benommen hatte. Ein seltsamer Telefonanruf, den wir nicht richtig einordnen konnten. Im Nachhinein müssen wir annehmen, dass Valdir vielleicht etwas geahnt hat und vorher reinen Tisch machen wollte.

 

Die Typen, die seinen Bruder angeschossen hatten, hatten von seinem Racheplan vernommen und kamen ihm zuvor. Sie lauerten ihm in der Favela auf und schossen ihm in den Rücken. Als er zu Boden fiel, begannen sie ihn mit Füssen zu treten. Schliesslich nahmen sie ihm den Revolver weg und schossen ihm mit seiner eigenen Waffe ins Herz. Er war sofort tot. Ich erfuhr von seinem Tod per email, als ich in Amerika weilte. Cleodemir, einer der Mitarbeiter unseres Projektes, nahm am 8. März an der Beerdigung teil und erzählte mir später am Telefon: „Weisst du, Gott hat Valdir bewahrt, damit er keine Dummheit anstellt. Und er hat zugelassen, dass er nicht gleich starb, damit er Zeit hatte, mit Gott ins Reine zu kommen Valdir ist im Himmel. Ich sah sein friedliches Gesicht im Sarg. Ich weiss, er ist im Himmel.“

 

Wenn ich an Valdir denke, dann sehe ich einen fröhlichen Burschen vor mir, der nur so sprudelte von der Liebe Gottes und allen, wirklich ALLEN von Jesus erzählte. Ich werde nie mehr vergessen, wie Valdir Tränen in den Augen hatte, als vergangenes Jahr ein siebzehnjähriges Mädchen namens Ceuli von Drogenhändlern erschossen wurde, ein Mädchen, das Valdir noch von der Zeit gekannt hatte, als er selbst auf der Strasse lebte. Er gestand mir unter Tränen: „Ich bin so froh, dass ich ihr von Jesus erzählt habe, eine Woche bevor sie gestorben ist. Ich werde nicht zulassen, dass dies nochmals geschieht. Ich werde diesen Kindern von Jesus erzählen, bevor es zu spät ist!“

 

Valdir wird mir immer ein Vorbild bleiben. Er hatte Fehler wie wir alle, stolperte sehr oft über seinen eigenen Charakter und konnte manchmal ganz dumme Fehltritte machen. Doch ich habe nie einen Menschen kennengelernt, der seine Fehltritte jeweils derart ehrlich und zutiefst bereute wie Valdir und Gott unter Tränen um eine neue Chance bat. Valdir war ein Mann nach dem Herzen Gottes. Das kann ich bezeugen. Und ich freue mich schon jetzt auf den Tag, wo ich ihn im Himmel wiedersehen werde.

 

 

 

Das Leben auf der Strasse (Rap von Valdir Lima Barbosa)

 

Im Leben auf der Strasse lernen wir nichts,

nur Leim schnüffeln und tun, was schlecht ist.

Ich lebte auf der Strasse und hatte nichts zu tun,

schnüffelte Leim, um vergessen zu können,

raubte alte Leute aus, um meine Sucht aufrechtzuerhalten,

von der ich eines Tages behauptete, ich würde sie bleiben lassen.

Eines Tages verhaftete mich die Polizei

Und brachte mich aufs Revier,

um mit einem Mann zu reden.

Ich wurde freigesprochen von diesem Mann,

und dann, als ich frei kam, begann ich zu überlegen:

„Ich habe dieses Leben gesehen.

Ich habe geraubt, ich habe geraucht,

ich hab das Leben gesehen,

ich habe geflucht und geliebt.“

Ich ging der Strasse entlang,

und ein Mann begegnete mir,

ich fragte ihn nach seinem Namen,

und er sagte ihn mir.

Dieser Mann ist Jesus Christus,

er ist mein Leben, mein Friede,

deshalb erzähle ich dir, wie sehr er dich liebt:

Ich schlief auf der Strasse, ich hatte nichts zu essen,

ich schrie zu Jesus Christus, und er gab mir zu essen,

ich schlief auf der Strasse, ich hatte nichts zu trinken,

ich schrie zu Jesus Christus, und er gab mir zu trinken.

Nun sage ich dir, mein Bruder:

Verlasse das Leben auf der Strasse, lebe nicht weiter darin!

Nun sage ich dir, mein Bruder:

Die Wahrheit ist klar: Jesus ist meine Leidenschaft!

Herr, du erforschst mich und kennst mich,

du weisst, wann ich mich setze und wann ich aufstehe,

von weitem kennst du all meine Gedanken

und deshalb liebe ich dich!